Arbeitszeit: Sind die Deutschen arbeitsscheu?

Ob in Deutschland mehr oder weniger als in anderen Ländern gearbeitet wird, lässt sich aus der Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden je Erwerbstätigen nicht ablesen. Auch wenn zusätzlich die Erwerbsbeteiligung berücksichtigt wird, erweist sich der Grad der Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials hierzulande als unterdurchschnittlich.

Bei der Bewältigung der Verknappung des Arbeitskräfteangebots im Zuge des demografischen Wandels kann die Verlängerung der Arbeitszeit eine wichtige Rolle spielen (Hüther et al., 2022). Ausgangspunkt der Überlegung ist, dass eine ausreichende Intensivierung der Zuwanderung und Erhöhung der Erwerbsbeteiligung womöglich nicht in den wenigen Jahren gelingen werden, die bis zum Höhepunkt der Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge noch zur Verfügung stehen (Schäfer, 2023).

Vor diesem Hintergrund wird oft argumentiert, dass die Anzahl der jährlich geleisteten Arbeitsstunden je Erwerbstätigen in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern niedrig sei und daher Spielraum für eine Anhebung bestehe. Der Vergleich ist jedoch aus zwei Gründen problematisch: Erstens werden die Angaben zur Arbeitszeit in einzelnen Ländern auf Basis unterschiedlicher statistischer Konzepte erhoben. So nutzt Tschechien lediglich Befragungsdaten aus der Arbeitskräfteerhebung, während in Kanada zusätzlich Daten aus der Verdienst- und Industriestatistik eingehen. In Deutschland werden sogar über 20 verschiedene Statistiken ausgewertet, um die jährliche Arbeitszeit zu berechnen (Wanger et al., 2019). Die Angaben sind mithin zwischen einzelnen Ländern schwer vergleichbar.

Zweitens vernachlässigt der Durchschnitt der Arbeitszeit aller Erwerbstätigen die Frage, wie groß der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung ist, denn Nichterwerbstätige und Erwerbslose gehen nicht mit einer Arbeitszeit von null in die Statistik ein. Wenn es einem Land gelingt, eine Million Erwerbslose in Arbeit zu integrieren – dies aber in Teilzeit –, dann sinkt die durchschnittliche Arbeitszeit pro Erwerbstätigen. In einem anderen Land, dem dieser Erfolg nicht gelingt, bleibt die Arbeitszeit hingegen gleich. Die Frage, ob in einem Land viel oder wenig gearbeitet wird, lässt sich so nicht beantworten.

Dafür ist es erforderlich, zusätzlich die Erwerbsbeteiligung zu berücksichtigen. Beide Größen stehen in einem inversen Zusammenhang: Länder mit hoher Erwerbsbeteiligung haben oft eine niedrige durchschnittliche Pro-Kopf-Arbeitszeit und andersherum. In Deutschland ist die Pro-Kopf-Arbeitszeit mit 1.341 Stunden zwar niedriger als in allen anderen OECD-Ländern, aber dafür ist die Erwerbstätigenquote hoch. So sind hierzulande knapp 77 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter erwerbstätig, im OECD-Durchschnitt sind es dagegen nur 69 Prozent. Eine Möglichkeit, beide Aspekte in einer Kennzahl zu verdichten, ist die Berechnung der geleisteten Arbeitsstunden je Einwohner im Erwerbsalter. Dies ergibt – sieht man von der Problematik schwer vergleichbarer Daten ab – einen Indikator für den Grad der Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials.

Eine solche Betrachtung zeigt, dass in Deutschland auch unter Berücksichtigung der Erwerbstätigenquote eher wenig gearbeitet wird (Grafik). Die hohe Erwerbstätigenquote kann eine niedrige Arbeitszeit in manchen Fällen zwar ausgleichen. So arbeiten die Franzosen einerseits 171 Stunden mehr im Jahr als Erwerbstätige in Deutschland, andererseits sind dort nur 68 Prozent erwerbstätig. Im Ergebnis wird das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland geringfügig besser ausgeschöpft. In anderen Fällen gelingt dies aber nicht. So arbeiten Erwerbstätige in der Schweiz 188 Stunden länger als die in Deutschland und zugleich liegt dort die Erwerbstätigenquote mit 79 Prozent höher. Als besonders fleißig dürfen die Neuseeländer gelten. Dort geht eine sehr lange Arbeitszeit von 1.748 Stunden mit einer hohen Erwerbsbeteiligung einher.

Die deutlich unterdurchschnittliche Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials in Deutschland zeigt erstens, dass durch eine höhere Ausschöpfung die Demografie-Effekte kompensierbar wären. Würde in Deutschland gleich viel gearbeitet wie in Neuseeland, könnte das Arbeitsvolumen um rund 30 Prozent höher liegen. Zweitens wird deutlich, dass die Stellschraube eher bei einer längeren Arbeitszeit liegt und weniger bei der ohnehin schon hohen Erwerbsbeteiligung.

Quelle: https://www.iwkoeln.de/studien/holger-schaefer-sind-die-deutschen-arbeitsscheu.html

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