Bearbeiten oder bummeln: die Wissenschaft des Prokrastinierens

Prokrastination, das willentliche und schädliche Aufschieben von Aufgaben, kennt viele Formen. Mithilfe einer mathematischen Theorie klassifiziert Sahiti Chebolu vom MPI für biologische Kybernetik ihre verschiedenen Arten und untersucht die dahinterstehenden Ursachen. Ihre Erkenntnisse könnten dabei helfen, Bewältigungsstrategien individuell maßzuschneidern.

Kurz und knapp:

  • Aufschieben hat verschiedene Formen.
  • Die Autoren untersuchen Prokrastination mathematisch als Aufeinanderfolge von Entscheidungen.
  • Starke Gewichtung der nahen Zukunft sowie Unsicherheit sind wichtige Ursachen.
  • Die Verhaltensmuster und deren Ursachen zu verstehen kann für Interventionen helfen.

„Wieso habe ich das nicht längst schon erledigt?“ – Ob bei der Steuererklärung, angesichts einer drohenden Deadline oder beim Wohnungsputz vor einem Familienbesuch: Fast alle haben wir uns schon gefragt, wieso wir gewisse Aufgaben gerne aufschieben, selbst dann, wenn daraus unangenehme Konsequenzen folgen. Wieso treffen wir Entscheidungen, die uns schaden – und noch dazu wider besseres Wissen? Genau darin besteht das Paradox der Prokrastination. Prokrastination, das willentliche, aber letztlich schädliche Hinauszögern von Aufgaben, hemmt nicht nur unsere Produktivität, sondern wurde auch mit einer Reihe psychischer Probleme in Verbindung gebracht. Daher lohnt sich die Frage, wieso dieses allgegenwärtige Phänomen derart unser Verhalten bestimmt – und was genau es eigentlich ist.
„Prokrastination ist ein Sammelbegriff für verschiedene Verhaltensweisen“, sagt Sahiti Chebolu, die am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik im Bereich Computational Neuroscience forscht. „Wenn wir sie verstehen wollen, müssen wir zwischen ihren verschiedenen Formen unterscheiden.“ Ein häufiges Muster ist, dass wir unsere eigenen Entscheidungen unterlaufen: etwa, wenn wir uns einen Abend für die Steuererklärung reservieren, aber dann doch einen Film schauen. Anders liegen die Dinge, wenn wir uns von vorneherein nicht auf eine Zeit festlegen: etwa dann, wenn wir auf ideale Bedingungen für die Tätigkeit warten. Die möglichen Muster des Prokrastinierens sind unzählig, und Chebolu klassifizierte alle, vom späten Beginnen bis zum Unterbrechen mittendrin. Darüber hinaus identifizierte sie mögliche Erklärungen, wie etwa Fehleinschätzungen der benötigten Zeit oder den Schutz des Selbstwertgefühls vor etwaigem Scheitern.

Das kurzsichtige Gehirn

Doch kann eine solche Klassifikation wirklich dabei helfen, Aufgaben rechtzeitig fertigzubekommen? Chebolu ist überzeugt, dass ein präzises mathematisches Verständnis der zugrundeliegenden Mechanismen der erste Schritt zu ihrer Überwindung ist. Sie formuliert Prokrastination als Aufeinanderfolge von Entscheidungen über Zeit. Was ist etwa los, wenn wir am für die Steuererklärung reservierten Freitagabend den Versuchungen des Streaming-Angebots erliegen? Man kann Entscheidungsfindung so verstehen, dass unser Gehirn alle positiven und negativen Folgen aufaddiert, die wir von den beiden Handlungsalternativen – Filmgenuss versus Papierkram – erwarten. Es ist nur natürlich, dass es das Vorgehen wählt, das in der Summe am angenehmsten erscheint.
Aber wiegt das Vergnügen eines Filmabends wirklich den Schock über eine gesalzene Versäumnisgebühr auf? Hier ist ein wichtiges Detail zu beachten: Konsequenzen in der fernen Zukunft werden vom Gehirn weniger stark gewichtet. Zu einem gewissen Grad ist das normal und sogar nützlich; schließlich ist die entfernte Zukunft mit mehr Unsicherheit behaftet. „Nur dann, wenn wir sofortige Erlebnisse unverhältnismäßig stark gewichten und den weiter entfernteren zu wenig Stellenwert einräumen,“ erklärt Chebolu, „wird eine solche Entscheidungsstrategie unangemessen.“

Einfach nur faul? Von wegen!

Soviel zur Theorie. Um Prokrastination im echten Leben zu untersuchen, analysierte Chebolu große Datensätze von Studierenden der New York University, die im Laufe eines Semesters eine feste Anzahl Versuchspersonenstunden ableisten mussten. Manche absolvierten gleich am Anfang alle Experimente, andere verteilten sie gleichmäßig über mehrere Wochen – und natürlich gab es auch solche, die sich so lange drückten, bis es fast zu spät war. Chebolu reproduzierte ihr Verhalten mit Computersimulationen. Ihre Frage: Welche Erklärungen passten am besten zu den verschiedenen Mustern der Prokrastination?
Es scheint naheliegend, die Schuld bei der Vorliebe unseres Gehirns für unmittelbare Befriedigung zu suchen. Doch in der Realität ist das Bild differenzierter: Für jedes Prokrastinationsmuster der New Yorker Studierenden fand Chebolu mehrere mögliche Erklärungen. „Unsicherheit ist ein weiterer wichtiger Faktor beim Prokrastinieren“, betont sie. Ungewissheit zum Beispiel darüber, wie lange wir brauchen, alle Belege über absetzbare Ausgaben zusammenzusuchen. Doch Unsicherheit kann auch bedeuten, dass wir zweifeln, ob wir die nötige Kompetenz für eine Aufgabe haben, oder ob sie mit unseren Zielen in Einklang steht.
Wenn man Prokrastination als eine Abfolge von Entscheidungen über Zeitabläufe versteht, wird ersichtlich, wo öfter in diesem Prozess etwas schiefläuft – so Chebolus Überzeugung. Daraus kann man dann passende Bewältigungsstrategien ableiten: Wenn Sie etwa merken, dass Ihr Gehirn etwas zu sehr auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung gepolt ist, können Sie sich selbst kleine Belohnungen zwischendurch versprechen. Wer hingegen die Zeit für Routineaufgaben öfter unterschätzt, kann sich zeitgebundene Ziele setzen. Und wenn Sie angefangene Tätigkeiten schnell aufgeben, könnte ein Wechsel in eine Umgebung mit weniger Ablenkungen helfen.
Egal, in welchem Prokrastinationsmuster Sie sich wiedererkennen mögen: Nein, Sie sind nicht einfach faul. Das zu erkennen und sich selbst für das bisherige Prokrastinieren zu vergeben ist ein guter erster Schritt Richtung mehr Produktivität.

Quelle: https://idw-online.de/de/news835261

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